„Haben Sie eine Deutschland-Karte?“; das ist eine der nervigsten Fragen, die mir jedesmal an der Kasse des Lebensmittelhändlers meiner Wahl gestellt wird. Es kann natürlich auch die Payback-Karte sein, oder die Rabattkarte, oder das Stempelkärtchen. Scheinbar soll der Kunde für seinen Kauf belohnt werden, tatsächlich ist es das Ziel die Kundenloyalität und die Kundenfrequenz zu erhöhen, um einen noch größeren Anteil an seinem Haushaltsbudget zu ergattern.
Den einzigen Reiz, den der Handel heute seinen Kunden bieten kann, scheint damit der Preis zu sein. Egal, ob als Dauerniedrigpreis, oder in Form von Rabatten bzw. Gutschriften. Jetzt hat meine geliebte Käseabteilung sogar ein Rabattkärtchen eingeführt: bei 10 Käufen über 5 € erhalte ich eine Gutschrift in Höhe von 5 € auf den 11. Einkauf. Geschätzt habe ich jetzt 6 solcher Karten - in jeder Jacke eine -, die dürfen aber nicht übertragen werden, hat die nette Verkäuferin mir am Tresen erklärt. Dabei sind es gerade die Verkäuferinnen der Käseabteilung warum ich meinen Käse bei Edeka kaufe. Die Beratung ist immer wieder köstlich. Sie verstehen es mich zu verführen. Ohne sie hätte ich nie einen Gruyeré Alpage durchzogen von Salzkristalen oder einen Bio-Kaffeekäse probiert - welch ein Geschmacksverlust, welch ein Verlust an Zufriedenheit und Glück wäre das gewesen.
Besonders schätze ich auch, die Hinweise an der Kasse vieler Tankstellen: „Säule 2! Heute zwei Balisto zum Preis von Einem, oder darf es sonst noch etwas sein, vielleicht ein Stück Kuchen zum Kaffee?“. Dabei esse ich gar kein Balisto und will meistens auch nur tanken. Die Angestellten und Aushilfen, die diese Satzsequenz hundertemal am Tag sagen müssen, haben dann immer meinen höchsten Respekt. Das Ergebnis: 10 oder 20 zusätzlich verkaufte Balisto am Tag? Und wieviele verärgerte Kunden, die sich dann nur noch durch den Literpreis führen lassen?
Dabei trifft gerade auf den Handel, die berüchtigte Austauschbarkeit zu. Ob ich mein Jever Bier bei Edeka oder bei Rewe oder beim Getränkehändler kaufe, ist letztendlich nur eine Frage des Preises. Oder doch nicht: Erst letzte Woche bin ich mit meinem Einkaufswagen und 8 Kisten Getränken (nicht nur Bier) an der Kasse vorgefahren, als der smarte Jungkassierer mich darauf hin wies, dass er eine Flasche aus einer der untersten Kiste benötigen würde. Ich habe ihm geantwortet: „Dann nehmen Sie sich eine.“ Daraufhin konnte er sich tatsächlich mit seinem Handscanner aus seinem Schutzraum bewegen und die unterste Kiste scannen, ohne eine einzelne Flasche in der Hand zu haben. 93,48 € habe ich bezahlt, inklusive Pfand und Ärger über den Kassierer. Wollen die meinen Jahresumsatz von geschätzt 1.500 € nicht mehr?
Dabei liegt gerade in der möglichen emotionalen Verbundenheit zwischen dem Kunden und dem Verkaufspersonal, die Chance des Handels, sich zu differenzieren. Das habe ich als Bub bei meiner Mama lernen dürfen, die in ihrem Lebensmittelgeschäft, die Ansprechpartnerin für viele Kundinnen war. Die Käsefachverkäuferinnen meines Edeka verhalten sich in einer ähnlichen Art und Weise. Die Chance des Handels liegt darin, den Menschen im Kunden zu erkennen. Das bedeutet, dass Beratung nicht durch stille Verkäufer, Bildschirme und Zweitplazierungen übernommen wird. Indem sich die Mitarbeiter für den Kunden interessieren, erhalten sie die Möglichkeit, den Kunden zu verführen - nicht zu einem Kauf, den dieser später bereut, sondern zu Glücks- und Zufriedenheitsmomenten während des Kaufs und anschließend des Konsums, des neu entdeckten Produktes. Mitarbeiter geben dem Kunden Orientierung und schenken ihm Wertschätzung.
Der Handel erhält einen neuen Sinn. Statt der Reduktion auf eine Niedirgpreisgetriebene Distributions- und Logistikfunktion, kann der Handel zu einer Destination zur Erfüllung zahlreicher individueller Wünsche werden. Der Einkauf ist für den Kunden nicht mehr nur Last, sondern Zeitvertreib und Erlebnis - vielleicht sogar ein kleines Event. Ikea - mehr Platz für deine Leidenschaften - ist heute schon für viele Familien, Pärchen, die sich einfach die Zeit vertreiben wollen, ein solcher Zeitvertreib. Der Lebensmittelhandel kann ebenso - dann aber mehrmals in der Woche -, ein attraktives Ziel für Menschen werden.
Aus der Neurobiologie wissen wir schon seit einigen Jahren, dass eine Stimulation des Kunden im Kaufprozess - also beim Besuch des Händlers - eine viel größere Wirkung hat, als der Versuch der Beeinflussung der Einstellungen durch kommunikative Maßnahmen, seien es TV-Spots, Anzeigenwerbung oder Social-Media-Werbeaktivitäten. Kent Berridge hat herausgefunden, dass in unserem Gehirn zwei Systeme arbeiten, die in unterschiedlichen Regionen verankert sind: das Wanting-System, welches motorische Handlungen einleitet, also zum Beispiel eine Handbewegung, allgemein eine Aktion, einen Kauf. Das Liking-System ermöglicht es dem Menschen hingegen zu sinnieren und sich zu artikulieren. Beide Systeme sind in unterschiedlichen Regionen im Gehirn verankert. Die Werbung spricht das Liking-System an, das kann aber nicht kaufen. Gekauft wird durch das Wanting-System, das kann es aber nicht erklären.
In der Ärzte-Zeitung beschreibt Stiftungsvorstand Dr. Christa Maar, der Felix Burda Stiftung die sich um die Darmkrebsvorsorge kümmert das Phänomen des wanting: Nach 15 Jahren mit diversen Kampagnen mit Prominenten wissen 80 Prozent der Menschen in Deutschland, dass es eine Darmkrebsvorsorge gibt – vor 15 Jahren waren es nur 20 Prozent. Das ist die gute Nachricht.
Aber, bisher haben kaum mehr als 30 Prozent der Anspruchsberechtigten die Vorsorgekoloskopie gemacht. Das vermutet Dr. Maar liegt daran, dass es für die Teilnahme keine direkte Belohnung gibt. “Ein darmkrebsfreies Leben ist etwas, das in ferner Zukunft liegt und nicht unbedingt als Benefit fühlbar ist. Daher kommt auch die Haltung, dass man diese Untersuchung nicht als dringlich ansieht und sie immer wieder aufschiebt. Man lässt sich gerne von den guten Vorsätzen abbringen und schiebt Dinge vor, die vermeintlich eiliger sind und die eine kurzfristige Befriedigung verschaffen wie Shopping, Yoga, Autopolieren.” (Ärzte Zeitung, Nr. 40)