Die klassische Managementliteratur, egal ob es dabei um einen der unzähligen Strategieratgeber, zum Beispiel „Der Weg zu den Besten: Die sieben Management-Prinzipien für dauerhaften Unternehmenserfolg“, oder Fachbücher zu Organisation und Führung, zum Beispiel „Führen mit Hirn: Mitarbeiter begeistern und Unternehmenserfolg steigern“ handelt, kennt fast immer nur den „Weg zu Spitzenleistungen“: Das Gewinnen, die Marktführerschaft, das dauerhafte Wachstum, die Maximierung der Rendite, die Steigerung der Effizienz. Zudem geht es dann noch gegen andere Organisationen. Mal als Wettbewerber, mal als Marktbegleiter tituliert. Immer wird der Eindruck der vollständigen Transparenz erweckt. Die Arbeit mit mittel- und langfristigen Plänen vermittelt den Eindruck der Unfehlbarkeit. Die Konsequenz: alle, Mitarbeiter, Führungskräfte und Top-Management verhalten sich plankonform.
Die Unternehmen wissen in der Regel wohin sie wollen - manchmal werden sie auch von den Kapitalgebern getrieben - sie wissen auch gegen wen sie agieren - zumindest dann, wenn das unmittelbar eigene Geschäftsfeld und seine Spielpartner betrachtet werden. Was diese Unternehmen meistens nicht wissen, ist warum die Organisation das tut, was sie tut. Anders gefragt: Welchen Sinn hat die Organisation?
In seinem wunderbaren Buch „Reinventing Organizations“ erläutert Frederic Laloux an zahlreichen erfolgreichen Praxisbeispielen, welche Bedeutung der Sinn für eine Organisation hat: Der Sinn eines ambulanten Pflegedienstes ist es zum Beispiel nicht, Medikamente zu verabreichen, einen Verband oder die Windeln zu wechseln. Der Sinn eines ambulanten Pflegedienstes kann es hingegen sein, den Menschen ein erfülltes und unabhängiges Leben in den vertrauten vier Wänden zu ermöglichen. Der Erfolg von Zeitarbeitsunternehmen wird oft in der Anzahl von Überlassungen, Umsatz und Gewinn gemessen. Das ist aber nicht der Sinn. Der Sinn eines Zeitarbeitsunternehmens kann zum Beispiel sein, Menschen es zu ermöglichen, eine Arbeit zu finden, die Ihnen (mehr) Spaß und (mehr) Zufriedenheit (als bisher) bringt. Dass dies wirtschaftlich extrem erfolgreich sein kann, zeigt Tina Voß aus Hannover, die eine Übernahmequote von weit über 60 % erreicht - bei insgesamt mehr als 500 MitarbeiterInnen.
Der Sinn eines Unternehmens ist mehr als ein Leitbild oder ein Grundauftrag oder eine Zusammenfassung von strategischen Handlungsoptionen. Diese Klassiker eines modernen Managements unterstellen, in die Zukunft schauen zu können. Es werden genaue Pläne erarbeitet. Auch die Strategien zur Erreichung dieser Pläne werden beschrieben. Manchmal hatte ich schon den Eindruck, eine Unternehmensplanung funktioniere wie der Blick in eine Zauberkugel. Die Leitbilder sind auch toll formuliert, direkt für eine Werbebroschüre. Ich selbst habe gemeinsam mit Mitarbeitern und Führungskräfte für zahlreiche Unternehmen, ob groß oder klein, solche Leitbilder (mit)entwickelt. Nahezu jedesmal sind wir alle hochzufrieden auseinandergegangen - die Teilnehmer waren begeistert. Doch wie lange? Welche Bedeutung hat ein solches Leitbild im Unternehmensalltag? In welchen Managementsitzungen wurde nach hitzigen Debatten, auf das Leitbild Bezug genommen? Wann haben die Mitarbeiter ihr Verhalten am Leitbild orientiert? Kennen die Mitarbeiter und Führungskräfte das Leitbild überhaupt, oder haben Sie davon nur einmal gehört?
Der Sinn eines Unternehmens ist erst dann erarbeitet, wenn die Mitarbeiter und Führungskräfte aus innerer Überzeugung darlegen können, dass sie jeden Tag ihren Beitrag leisten möchten, um … . Dann wird der Sinn lebendig. Der Sinn wird tagtäglich in zahlreichen Gesprächen, Diskussionen den Weg zur Lösung unterschiedlichster Probleme bahnen. Nach Laloux bietet sich bei jeder Entscheidung die Möglichkeit, folgende Frage zu stellen: welche Entscheidung dient dem Sinn der Organisation? Wenn die Veränderung einer Rolle (einer Aufgabe / Funktion im Unternehmen) diskutiert wird, stellt sich die Frage: wie wird diese Rolle dem Sinn der Organisation dienen? Ein neuer Kunde oder Zulieferer kann diese Frage hervorrufen: Wird eine Zusammenarbeit mit diesem Kunden / Zulieferer dem Sinn der Organisation gerecht?
Wenn ein Unternehmen wirklich für einen Sinn lebt, dann hat das Unternehmen keine Konkurrenz. Es kennt keine Wachstums- und keine Gewinnziele. Den Gewinn vergleicht Laloux mit der Luft, die wir atmen. Natürlich brauchen wir die Luft um zu leben, wir leben aber nicht um zu atmen. Ein Unternehmen braucht dauerhaft Gewinn, um in der Wirtschaft eine Daseinsberechtigung zu haben. Das ist aber nicht der Sinn eines Wirtschaftsunternehmens. Der Sinn des Wirtschaftens selbst besteht bekanntermaßen darin, Bedürfnisse besser zu befriedigen, als dies bisher geschieht. Wirtschaften bedeutet die Wohlfahrt einer Gesellschaft zu steigern. Leider ist dieser Sinn in den letzten Jahrzehnten in die Vergesslichkeit geraten.
Wenn eine Organisation „Unternehmen“ sich seines Sinns bewusst ist, wird das Handeln der Mitarbeiter und Führungskräfte an den Customer Touchpoints für die Handelnden und die Kunden als sinnhaft erscheinen. Echte Kundenorientierung hat immer einen Sinn.
Schlimm ist, dass sich Unternehmen ihrer Sinnlosigkeit sogar noch rühmen. Der Spiegel schreibt zum Beispiel über Cisco: Cisco US-Netzwerkausrüster – Cisco streicht 5500 Jobs
Der Netzwerkkonzern Cisco hat einen Stellenabbau angekündigt: Das US-Unternehmen entlässt etwa sieben Prozent der Belegschaft – und verkündet “erneut starke Quartalszahlen”.
Was mögen die 5500 Mitarbeiter – und diejenigen, die es zunächst nicht getroffen hat, darüber denken.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/cisco-us-netzwerkausruester-streicht-5500-jobs-a-1108249.html