Customer Journey ist eine der modernsten Marketing-Kompositionen der letzten Jahre. Auf der Hitliste der Empfehlungen der Fachleute ist sie seit Monaten ganz oben: "orientieren sie sich an der Customer Journey des Kunden". Die Herausforderung: Die Zahl der Endgeräte, Kanäle und Touchpoints steigt ständig und die Unternehmen kennen viele nicht. Die Kunden wählen ihre Apps selbst aus, entscheiden wo und wie sicher sie mit wem kommunizieren. „Digitale Erfahrungen“ mit dem Unternehmen werden dann von den Kunden gefunden - aus Unternehmenssicht eher zufällig, aus Sicht des Kunden unbewusst, bewusst und unbewusst bewusst. Die Konsequenz: Marketing und Vertrieb waren noch nie so komplex wie heute! Diese Komplexität zu beherrschen halte ich für die etwas schwierigere Form der Quadratur des Kreises: damit der Kunde über alle Online- und Offline-Touchpoints hinweg erkannt und adressiert werden kann, müssen die Daten zusammengeführt werden - im Einklang mit der Gesetzgebung zum Datenschutz. Und dann würde dies nur die Vergangenheit erklären. Die Customer Journey ist ein wunderbares theoretisches Konstrukt. Viele Dienstleister, Berater, IT-Spezialisten werden viel Geld damit verdienen. Der Wert, den die Kunden (hier Unternehmen) dafür erhalten, ist vom Inhalt her extrem komplex, hat aber einen geringen Wert im Kontext der Kundenorientierung.
Es geht nämlich nicht um die Reise der Kunden, sondern geht um die durch Motive gesteuerte Verhaltensweisen des Kunden. Es stellt sich nicht die Frage, wie kann das Unternehmen den Kunden erreichen und beeinflussen, sondern wie versucht der Kunde seine Motive zu befriedigen und wie kann das Unternehmen dem Kunden dabei helfen. Angesichts der Erkenntnisse der Neupsychologie um Daniel Kahneman gewinnt die Customer Journey eine ganz neue Bedeutung.
Eine Customer Journey darf nicht mit einer Routenplanung verwechselt werden, wie zahlreiche Unternehmen diese sich wünschen. 85 Prozent der befragten potentiellen Kunden in einer Einzelhandelsstudie gaben zum Beispiel an, dass die Interaktion über Soziale Medien keinen Besuch einer Filiale nach sich ziehen würde und Zweidrittel nützen Social Media bei der Kontaktaufnahme mit dem Händler gar nicht. Dafür hat das Einkaufserlebnis und der Service den größten Einfluss auf den Kunden - und damit auch auf die Produktivität eines Customer Touchpoints, wie zum Beispiel einem Ladengeschäft oder einer Filiale. Die wahren Helden des Einzelhandels sind nun mal die Verkäufer. Das sind die Werttreiber einer Filiale oder die Kundenvertreiber, wenn es kein Verkaufspersonal gibt oder dieses schlecht ausgebildet ist.
Kommunikation funktioniert nur, wenn sie auf aktivierte Motive trifft und somit für den Kunden relevant ist. Deswegen ist es wichtig, den Kundenkontaktpunkt genau auf die vorherrschende Motivlage des Kunden zu analysieren und das Erlebnis am Kundenkontaktpunkt genau auszusteuern. Damit wird auch noch einmal die enorm große Bedeutung der Kommunikation für kundenorientiert agierende Unternehmen deutlich. Durch die Ansprache aktivierter Motive wird der Autopilot sensibilisiert und folglich der „Scheinwerfer der Aufmerksamkeit“ anders eingestellt. Der Autopilot wird nun hellhörig.
Die Customer Journey darf nicht als Routenplanung, die mit GPS versehen, auf Staus und mögliche Sehenswürdigkeiten oder Golfplätze in die Zukunft schauen kann, verwechselt werden. Hilfreich ist das Modell einer Customer Journey nur dann, wenn die unterschiedlichen Motive an den unterschiedlichen Customer Touchpoints betrachtet werden. Bei der Entwicklung von Kundenerlebnissen, sollten die einzelnen Elemente immer wieder im Kundenalltag, aus der durch Motive bestimmten Fokusbrille des Kunden gesehen werden. Entsprechend der unterschiedlichen Motivsystem können die Elemente so gestaltet werden, dass nur positive, vielleicht sogar begeisternde Erlebnisse geschaffen werden, die letztendlich doch zum Erstkauf oder zur Kundenloyalität beitragen können - wir werden es nur nicht wissen.
Sehr geehrter Herr Prof. Gündling,
vielen Dank für diesen sehr treffenden Text! In Anbetracht der aktuell postulierten Parole “Google ist der beste Außendienst” und dem angekündigten Untergang des aktiven Vertriebes durch Menschen, halte ich es ebenfalls für sinnvoll mal wieder der Realität Platz einzuräumen. Der personen- und motivorientierte Verkauf ist aus meiner Sicht auch in Zukunft der Erfolgsfaktor – zumindest im B2B Bereich. Sicherlich müssen wir die veränderten Informationsmöglichkeiten unserer Kunden im Bereich der Demand Generation berücksichtigen – das ist aber Marketingthema -, aber der daraus resultierende Verkaufsprozess wird nach wie vor beziehungsorientiert und auf Basis der Bedienung von Motiven funktionieren.
Hallo Herr Schneider,
ich stimme Ihnen fast uneingeschränkt zu. Tatsächlich bin ich überzeugt, dass nicht nur im B2B, sondern gerade auch im B2C der persönliche Verkauf wieder an Bedeutung gewinnen wird. Das lässt sich aus der zunehmenden Freizeit und den verfügbaren Mitteln der Silver Generation ableiten. Gerade auch die Generation Z entdeckt das Shopping für sich neu. Nicht alles ist nur digital.
Allerdings sollte auch die Trennung in Marketing und Vertrieb überdacht werden. Deshalb würde ich empfehlen, “die veränderten Informationsmöglichkeiten unserer Kunden im Bereich der Demand Generation” nicht als Marketingthema zu “delegieren”. In Zukunft werden die Unternehmen, eher einen Wettbewerbsvorsprung erarbeiten können, die in Markt- oder Kundenmanagementeinheiten organisiert sind. Produktmanagement, Verkaufsmanagement, Werbung … als selbstständige Funktionen einer Marketingabteilung, bei gleichzeitig getrenntem Vertrieb, werden den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht.